Ungewöhnliches Wagnis
Das ungewöhnliche Wagnis beschreibt im Vergabeverfahren Ereignisse oder Umstände, die für den oder die Bieter:in nicht vorhersehbar sind und die er nicht beeinflussen kann, die aber dennoch mit erheblichen negativen Auswirkungen verbunden sind. Das Risiko dafür muss von der Auftraggeberseite getragen werden.
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Was versteht man unter einem ungewöhnlichen Wagnis im Vergabeverfahren?
Beispiele für ungewöhnliche Wagnisse sind:
- Krieg
- Umweltkatastrophen: Überflutung, Erdbeben, Tornados, etc.
- technische oder logische Unmöglichkeiten
- Bedingungen, die von dem Erfolg einer anderen Ausschreibung abhängen
Infolge eines solchen Ereignisses, ist die Preiskalkulation bieterseits beeinträchtigt, da die Informationsgrundlage nicht mehr ausreicht. Im Vergabeverfahren muss der oder die Auftraggeber:in bei der Erstellung von Leistungsbeschreibungen somit folgendes beachten:
- Dem Bieter oder der Bieterin darf kein ungewöhnliches Wagnis aufgebürdet werden, auf das er oder sie keinen Einfluss hat.
- Der oder die Bieter:in muss über alle preisbildenden Umstände vorher Kenntnis erlangen.
- Die Leistung muss in dem Rahmen erfüllbar sein.
Sollten die Wirkungen auf Preise und Fristen zuvor nicht absehbar gewesen sein, oder die Leistung nicht erfüllbar sein, handelt es sich um ein ungewöhnliches Wagnis, welches unter keinen Umständen zu Lasten des Bieters oder der Bieterin gehen darf. Davon abzugrenzen sind gewöhnliche Wagnisse. Darunter fallen Risiken bei der Beschaffung von Materialien und die Möglichkeit kurzfristiger Ausfälle, mit denen Bieter:innen rechnen müssen. Auch typisch sind Schwankungen bei Preisen und Kosten, die stets erwartet und somit einkalkuliert werden müssen. Die Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen regelt dies explizit für Bauvergaben in § 7 Abs.1 Nr.3 VOB/A. Die Vergabe- und Vertragsordnung für Leistungen (VOL) regelt den Umgang mit ungewöhnlichen Wagnissen im Bereich von Waren- und Dienstleistungen bisher nicht ausdrücklich. Dennoch kann man davon ausgehen, dass sie grundsätzlich gleich zu behandeln sind.
Gründe für die Rechtswidrigkeit
Bei öffentlichen Ausschreibungen liegen oftmals Informationsasymmetrien vor. Die öffentliche Hand hat im Vergleich zu den Unternehmen wesentlich mehr Handlungsspielräume und besitzt mehr Informationen. Dadurch hat sie auch die Möglichkeit, den Auftragnehmer:innen Wagnisse aufzubürden, indem sie ihnen Handlungen diktiert. Dieses Risiko soll durch das Verbot minimiert werden.Mithilfe ihm geht außerdem die Prüfung der Unzumutbarkeit einher. Wenn dem Bieter oder der Bieterin nicht zugemutet werden kann, dass er auf Basis dieser Umstände den Angebotspreis kaufmännisch vernünftig kalkulieren kann, ist eine gesetzliche Regelung dessen dringend notwendig. Diese ungewöhnlichen Wagnisse und damit möglicherweise einhergehenden Fehlkalkulationen belasten den wirtschaftlichen Erfolg des oder der Bietenden. Möglicherweise entstehen dadurch Verluste aufgrund der unzureichenden Kalkulationsgrundlage und der Gleichbehandlungs- und Transparenzgrundsatz wird verletzt. Das Verbot dient also der Wahrung eines Gleichgewichts und verhindert die Ausnutzung der Handlungsspielräume beziehungsweise der Nachfragemacht seitens der öffentlichen Hand. Explizit gilt diese Regelung nur für Bauvergaben – im Bereich der Waren- und Dienstleistungen erzielt eine Prüfung der Unzumutbarkeit ähnliche Wirkung. Liegen dem Bieter oder der Bieterin die preisbildenden Umstände nicht vor dem Zuschlag vor und kann ihm oder ihr dadurch eine vernünftige Kalkulation nicht zugemutet werden, kann auch hier ein Verbot zur Aufbürdung der Umstände, durch das Gleichbehandlungsgebot (§ 97 Abs.2 GWB) und das Willkürverbot, erfolgen.
Wie lassen sich ungewöhnliche Wagnisse abfedern?
Auftraggeber:innen haben die Möglichkeit, Wagnisse, die in der Regel als ungewöhnlich gelten, zu gewöhnlichen Wagnissen werden zu lassen. Dazu gibt es insbesondere zwei Wege:
- Wenn der Auftraggeber oder die Auftraggeberin zuvor auf die kritischen Umstände oder Ereignisse hinweist: Der Bieter beziehungsweise die Bieterin hat dann die Möglichkeit zu entscheiden, ob er oder sie das Risiko tragen möchte.
- Auftragnehmer:innen können die Eintrittswahrscheinlichkeit des Risikos einzukalkulieren und daraus gegebenenfalls einen Risikozuschlag ermitteln: So sichert er oder sie sich gegen das Risiko ab und es wird nicht mehr als ungewöhnliches Wagnis klassifiziert. Dafür muss diese Wahrscheinlichkeit allerdings konkret feststehen. Sollte die Gefahr bestehen, dass das Wagnis erhebliche Dimensionen erreicht, darf auch das nicht dem oder der Bietenden auferlegt werden, selbst wenn es vorher bekannt war.
Beispiel: Preissprünge aufgrund von Krieg
Durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine sind die Preise für einige Rohstoffe und Energie erheblich gestiegen. Dadurch entstehen unvorhersehbare Belastungen auf der Anbieter- und auf der Nachfrageseite. Bei der Ausschreibung eines Bauauftrag Ende 2021 wurde im März 2022 ein Angebot von einer Bieterin A abgegeben, welches preislich rund 20 Prozent unter dem Angebot der anderen Bieter:innen lag. Durch den Krieg sind die Preise allerdings stark angestiegen, weshalb die Vergabestelle die Kosten danach über 50 Prozent höher einschätzte. Daraufhin sollten alle Bieter:innen die Auskömmlichkeit ihrer Angebote bestätigen, was jedoch von der Bieterin A und auch den zweit- und drittplatzierten Bietern nicht erledigt wurde. Daraufhin wurde die Bieterin A durch die Vergabestelle von dem Verfahren ausgeschlossen, da ihr Angebot unangemessen niedrig sei. Die Bieterin hat daraufhin ein Nachprüfungsverfahren veranlasst, das zu ihren Gunsten entschieden wurde: Die Kostenschätzung seitens des oder der Auftraggeber:in sollte stets vor dem Angebotseingang erfolgen, um potenziellen Missbrauch und Diskriminierung zu vermeiden. Außerdem wurde die Preisprüfung nicht korrekt durchgeführt. So hat die Vergabestelle zum Beispiel keine Aufklärung über die Preis- und Kostenermittlung bei der Bieterin angefragt, sondern lediglich eine Bestätigung zur Auskömmlichkeit des Angebotes. Ein unauskömmliches Angebot (es wird kein Gewinn erzielt) ist allerdings nicht identisch mit einem unangemessenen Angebot (der Preis weicht deutlich vom ermittelten, üblichen Marktpreis ab). Daraus folgt also, dass der Bieterin A hierbei ein ungewöhnliches Wagnis aufgebürdet wurde. Es handelt sich dabei nicht um ein gewöhnliches Wagnis, da es kein übliches Risiko zu Kosten, Preisen oder Beschaffung ist, das bei Ausschreibungen auftreten kann. Der oder die Bietende soll dadurch geschützt werden, im konkreten Beispiel also Bieterin A. Auftraggeber:innen sollten also diese unkalkulierbaren Kostensteigerungen in der Zukunft, mit der Stoffpreisklausel einbeziehen, um einen möglichen Verfahrensangriff zu verhindern.