1 Jahr nach der Flut - wie im Ahrtal die Zeit stillsteht

Der Heilige Nepomuk soll vor Wassergefahren schützen. Doch in Rech an der Ahr ist ihm das nicht gelungen. 134 Menschen kamen in der Flut im Ahrtal um und der Wiederaufbau geht nur schleppend voran. 

Flut-1 Jahr © ferkelraggae / stock.adobe.com

Der Brückenheilige Johannes Nepomuk stand auf der ältesten Brücke des Ahrtals, doch er hat in die falsche Richtung gesehen. Mit dem Blick Richtung Mündung konnte er die unbeschreibliche Flutwelle, die hinter ihm ankam, nicht sehen - sie hat ihn mitgerissen. Die Flut, die die fast 300 Jahre alte Brücke in großen Teilen zerstört hat, gilt als eine der schlimmsten Umweltkatastrophen, die Deutschland je erlebt hat. Teile von Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz wurden von horrenden Wassermassen platt gewälzt. Im Zentrum der Zerstörung: Das Ahrtal. Normalerweise ist die Region bekannt für eine wunderschöne Landschaft. Die idyllische Ahr plätschert durch ein malerisches Tal. Weinberge laden zum Wandern, Radfahren und Genießen ein. Wenn man vor dem 14. Juli 2021 auf Google nach dem Ahrtal gesucht hat, wurden einem Bilder von Rotwein und Wandernden in herbstlichen Weinbergen, Weinköniginnen in langen Kleidern und im Wasser spielenden Kindern gezeigt. Wenn man heute “Ahrtal” bei Google eingibt, werden einem Schlagzeilen angezeigt wie “134 Todesopfer bei der Flut im Ahrtal” und die Bildersuche ist ein Abbild der Zerstörung.

Von der Welle der Solidarität ins Vergessen

Rund 100.000 freiwillige Helfer:innen haben bei den Aufräum- und Sanierungsarbeiten in dem Weinanbaugebiet unterstützt. Doch heute, ein Jahr nach der Flut, haben viele nur noch das Gefühl eines Deja-Vus, wenn sie Ortsnamen wie Ahrweiler, Dernau oder Schuld hören. Und wenn sie sich dann doch wieder daran erinnern, warum ihnen diese Namen so bekannt vorkommen, offenbaren sie den Irrglauben, dass alle Spuren der Flut mittlerweile beseitigt sind. Den wenigsten scheint bewusst zu sein, dass viele Menschen im Ahrtal immer noch in Tiny-Häusern oder in den oberen Stockwerken ihrer Ruinen leben. Wieder andere sind vorübergehend in ganz Deutschland verteilt, in der Hoffnung, irgendwann wieder in ihre Heimat zurück zu können. Für das Ehepaar S. aus Sinzig kam es nie in Frage, das Ahrtal zu verlassen: “Wir sind im Herbst oder Frühwinter letzen Jahres wieder in unser Haus gezogen - natürlich nicht ins Erdgeschoss. Vorher haben wir im Wohnwagen gewohnt, der war in der Flutnacht zum Glück nicht an der Ahr. Als der gröbste Dreck weggeräumt war konnten wir die Zimmer unserer Töchter, die mittlerweile beide ausgezogen sind, im Obergeschoss zu einer netten Wohnung umbauen. Seitdem beobachten wir, wie hier nichts passiert. Eigentlich sollten noch vor Weihnachten zwei Häuser hier in der Straße abgerissen werden: Das Haus schräg gegenüber ist jetzt seit ungefähr zwei Wochen weg und das unserer direkten Nachbarn wurde letzte Woche endlich entkernt.”

Stillstand: Kein Geld, keine Handwerker, keine Materialien

Wie immer nach großen Schadensfällen, kündigte die Politik “schnelle und unbürokratische” Hilfe für die Opfer an. Doch die Realität sah, auch wie immer, anders aus: Flut-Geschädigte mussten sich durch seitenweise Formulare und Anträge kämpfen, denn jede Behörde und zig Ansprechpartner:innen wollten ein Wörtchen mitreden oder von allen Seiten wurde Geld auf unterschiedlichste Weise verteilt. Etliche haben bis heute kein Geld gesehen, insbesondere ältere Menschen, die nicht ausreichend Unterstützung hatten. Natürlich ist im letzten Jahr einiges geschehen, doch an vielen Stelle, etwa auf der Strecke von Laach über Mayschoß, Rech und Dernau bis nach Ahrweiler, scheint die Zeit stillzustehen. Die Häuser sind wie ausgehöhlt, Brücken unbegehbar, ganze Straßenzüge voller Schutt und Viertel komplett abgerissen. Die alten Fachwerkhäuser stehen als Gerippe in der Landschaft, sehen aus als würden sie beim nächsten Windhauch zusammenklappen. Vor Weihnachten hingen in einigen geschmückte Christbäume, erinnerten an die rauschenden Feste voller Liebe, die hier gefeierten wurden. Manche Bewohner:innen sind desillusioniert und hoffnungslos. Dieses Gefühl der Ohnmacht hat in einigen Fällen sogar zum Suizid geführt. Immerhin hat der Bund bis zu 30 Milliarden Euro zur mittel- und langfristigen Unterstützung des Wiederaufbaus bereitgestellt - nun müssen diese Gelder von den Verantwortlichen nur noch sinnvoll eingesetzt werden.

Die Katastrophe als Neustart sehen

Christian Kuhlicke ist Soziologe am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung. Er begleitet den Wiederaufbau und dokumentiert mit anderen Wissenschaftler:innen wo es hakt. Im Gespräch mit der Zeit erklärt er: “So dramatisch diese Ereignisse sind: Sie bieten auch die Möglichkeit, etablierte Pfade zu überdenken. Sie zeigen uns beispielsweise auf drastische Weise, wie wichtig effektiver Klimaschutz jetzt wäre.” Wie groß der Anteil des Klimawandels an der Katastrophe war, kann nicht beantwortet werden. Dass es sich häuft, ist allerdings unmöglich zu leugnen. “1993 und '95 die großen Rhein-Hochwasser, '97 das Oder-Hochwasser, 2002 Elbe, 2006 Elbe, 2010 Neiße, 2013 wieder die Elbe, 2016 dann Simbach/Braunsbach, 2021 Ahrtal.” Und selbst für das Ahrtal war letztes Jahr nicht das einzige Hochwasser. “2016 stand hier in der Straße in fast allen Kellern Wasser, außer in unserem, da das Haus etwas höher gebaut ist als der Rest. Unsere Nachbarn durften nicht mehr so hoch bauen. Nach dem Hochwässerchen, wie man es rückblickend wohl nennen kann, war überall die Rede vom Jahrhunderthochwasser”, erinnert sich Herr S. Dass es im Ahrtal immer wieder zu kleineren Fluten kommen kann, wussten die Anwohner:innen also und haben sich entsprechend vorbereitet. “Einige Nachbarn haben die Abflüsse im Keller so umgebaut, dass das Wasser aus der Kanalisation nicht hochgedrückt werden kann. Und es wurden Hochwasserschutztüren an den Kellereingängen eingebaut, damit die Türen nicht brechen, sobald das Wasser am Treppenabgang steht.” Bei diesen Ausmaßen waren die Schutzvorrichtungen selbstredend zwecklos. Vielen Menschen ist allerdings gar nicht bewusst, wie hoch das Risiko ist, dass auch sie irgendwann von Hochwasser betroffen sind. “Die Anzahl der Versicherungsschäden wegen Wassers ist seit einigen Jahren nicht mehr entlang der Flüsse am höchsten, sondern tatsächlich in Gebieten, von denen man denkt, dass sie nicht sonderlich gefährdet sind. Für eine Untersuchung haben wir auch mit Leuten gesprochen, die auf Bergen wohnen – selbst die sind inzwischen betroffen. Bei ihnen entstehen natürlich andere Schäden als durch die destruktiven Wassermassen in engen Tälern. Aber ja, ein Risiko besteht inzwischen für alle”, erklärt Kuhlicke.

Stadtplanung muss neu gedacht werden

Doch neben der Sensibilisierung der Anwohner:innen für das Risiko und auch der Aufklärung, wie im Ernstfall zu handeln ist, sind grundlegende Präventionsmaßnahmen erforderlich. Sei es ein Rückbau der Flächenversiegelung, damit mehr Wasser versickern kann, mehr Rückhaltebecken, Schwammstädte, die Regenwasser besser nutzen können und Kreislaufsysteme. “Im Bestand ist es natürlich ungleich schwieriger, Gebäude, Straßen oder sogar Viertel an Wetterrisiken anzupassen. Aber wir bauen ja immer noch sehr viel neu”, so Kuhlicke. An Ahr und Erft wurden rund 9.000 Gebäude zerstört oder schwer beschädigt, bis auf 34 dürfen sie wieder an selber Stelle aufgebaut werden, melden die Versicherer. Da gerade unsere Art zu Bauen uns so verwundbar gemacht habe, sei das kontraproduktiv, sagt Kuhlicke. “Viele, die ihr Haus wieder an derselben Stelle aufbauen, machen es vor allem, weil sie nicht anders können, beispielsweise aus finanziellen Gründen, wegen Vorgaben von Versicherungen oder wegen der Förderrichtlinien für den Wiederaufbau der betroffenen Bundesländer.” Das Problem sei, dass von der Politik keine klaren Zeichen kämen, obwohl zumindest in den betroffenen Regionen gerade die Zeit sei, grundlegend etwas zu ändern. Dabei ginge es nicht nur um den Hochwasserschutz, sondern auch um Energiefragen, Telekommunikation oder Digitalisierung, also darum, wie lebenswerte Orte und Städte in Zukunft aussehen - doch die Behörden nutzen diese Chance nicht. “Auch wenn ich kritisiere, dass ich dort nicht das große Konzept erkenne: Die Verantwortlichen machen sich sehr viele Gedanken. Doch es fehlt ihnen vor allem an Personen, Wissen und klaren Vorgaben, an denen sie sich orientieren können.”

Warten auf die nächste Flut?

Frau S. stellt sich neben ein Loch im Boden. “Hier stand ich früher und habe gekocht. Jetzt ist hier ein Metallstab, der das Gewicht der fehlenden Mauern trägt und ich kann einfach bis auf die Rohre, die mal im Kellerboden verlegt waren, hinunterschauen. Es ist schon etwas beängstigend, vor allem, weil wir direkt hier drüber schlafen.” Doch für sie und die meisten Menschen im Ahrtal gibt es keine andere Möglichkeit als weiterzumachen, schon alleine weil ihre Herzen an der Region hängen. Und beim nächsten Hochwasser hoffen sie, dass Nepomuk, dessen Torso einen Monat nach der Flut gefunden und dessen Kopf durch den Bildhauer Doru Nuta rekonstruiert wurde, bessere Arbeit leistet.

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ibau Autorin Hannah Simons
Hannah Simons

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